Elke Krasny: Stadt_Natur_Landschaft

Die Geschichte der Entwicklung von Städten ließe sich auch aus der spezifischen Perspektive der Er-Findung der Natur in der Stadt erzählen. Diese Hervorbringungen und Produktionen, die aus den Geschichten der Erfindung der Natur in der Stadt resultierten, führten zur Entwicklung der Stadt als Landschaft. Im Verhältnis des Umgangs mit der Natur in der Stadt wird jene kulturalisierte Version von Natur erzeugt, die wir als Landschaft bezeichnen. Im urbanen Kontext wird diese Landschaft im engeren Sinne zur Stadtlandschaft. Diese entsteht aus dem wechselwirkenden und veränderbaren Zusammenspiel von "grau" und "grün", von Gebautem und Gepflanztem, von Ungeplantem und zufällig Wachsendem, von Gewolltem und Ungewolltem, Gewünschtem und Unerwünschtem, Lokalem und Hinzukommendem. 
Stadtlandschaft umfasst schließlich beides: das geplante Grün, das sich ideal nach den Regeln des Entwurfs zu entwickeln hat und das ungeplante Grün, das durch unvorhersehbare Transportketten, durch Wind oder Wasser, durch das Fell von Tieren oder die Schuhe und Hosenstulpen von Menschen, migriert und andernorts auftaucht. 
Die kulturellen Vorstellungen und die philosophischen Ideen einer Epoche zeigen sich auch im Entworfenen und Geplanten einer Zeit. Im Gebauten und Gepflanzten werden diese Ideen über den Durcharbeitungsvorgang von Entwurf und Planung zu Manifestationen. In diesen Manifestationen lässt sich retrospektiv die Entwicklung der Geschichte der Vorstellungen und Ideen analytisch wie ästhetisch untersuchen. Die Kontinuitäten und Diskontinuitäten, die durchgängigen Linien und markanten Brüche, die Referenzen an Vorangegangenes und die Interventionen in den entstandenen urbanen Landschaftskanon lassen sich im gegenwärtigen Raum von Städten ablesen. Die kulturellen Sedimentationen überdauern den Entwurf. Sie überdauern auch die Entstehungszeit. Dennoch, das, was ich die Eigenzeit des Entwurfs nennen möchte, reist mit diesem transformiert und transformierend, räumlich lokalisiert, durch die Zeiten und findet sich in den Zeitschichten, die das Nebeneinander von Stadt ausmachen. Aus dem „Gebauten“ und „Gepflanzten“ wird das manifest, was die kulturellen Vorstellungskräfte einer Zeit mobilisierte. Die Eigenzeit des Entwurfs wird als Spur greifbar in den gegenwärtigen Manifestationen einer Stadtlandschaft. Diesen Spuren der Eigenzeitlichkeit geht Michaela Niederkirscher als Fotografin nach. Auf ihren Stadtreisen wird sie zur Forscherin mit der Kamera in der Hand. Sie hält ihre Beobachtungen fest. Diese fotografische Bannung ins Bild, diese künstlerischen Dokumentationen durch Niederkircher weisen auf jene Manifestationen hin, in denen das Entworfene und das Jetzige, das Gebaute und das Gepflanzte, das Gewollte und das Zufällige zueinander spricht. „In der Landschaftsmalerei”, wie Martin Warnke ausführt, ”werden Motive prominent, deren objektive Bedeutung zunehmendes politisches Gewicht gewannen.“ Werden diese Motive, wie die Baumbepflanzung von Straßen oder Alleen, der Zuschnitt von Bäumen in öffentlichen Parkanlagen, Jahrhunderte später fotografisch im Stadtraum aufgefunden und festgehalten, wie es Niederkircher bei ihren Stadtreisen tut, dann wird das vormalig zugeschriebene politische Gewicht als abgesunkene, kulturelle Sedimentation zum Verweis auf eine Form, deren Bedeutungsinhalte oberflächlich nicht mehr lesbar, aber genealogisch in jedem zeitgenössischen Schnitt in die Baumzurichtung präsent sind. In ihrer Serie „Rognage” untersucht Niederkircher nicht nur den Baumschnitt selbst, sondern auch die Raumformationen, die Geometrien, die durch die Anordnung der Bepflanzung entstehen, wie Alleen oder Parkanlagen. Das im Moment gefrorene Ballett des Ornamentalen braucht den ständigen Nachschnitt. Immer wieder und immer wieder muss der Schnitt die Form nachzeichnen, um sie in Form zu halten. Die Traditionen des Baumschnitts müssen als kulturelle Techniken weiter gegeben werden, um die Methoden der Vergangenheit im heutigen Stadtraum präsent zu halten. 
In „Politische Landschaft. Die Kunstgeschichte der Natur“ verweist Martin Warnke auf die herrschaftskonstitutive, hegemoniale Raumfunktion von Alleen, die zentralperspektivisch auf den Souverän in der Unendlichkeit des Horizonts zulaufen, und erinnert an die Kastanienallee, die 1537 im Prater von Wien angelegt wurde oder an die Promenade „Unter den Linden“ in Berlin. Soziale Distinktionen und Abgrenzungen, Herrschaftstechniken und Subjektvorstellungen manifestieren sich in den ästhetischen Strategien des barocken Landschaftsentwurfs, in der Unterwerfung der Natur in die ornamentierte Formenwelt. „Die wenigen Alleen in der Malerei reflektieren den sozialpolitischen Signalwert der Anlage: Das dem Flamen Sebastiaen Vrancx zugeschriebene Bild im Amsterdamer Rijksmuseum ordnet die Allee dem Schloss zu und achtet darauf, dass die Baumreihen der Allee die lustwandelnden Höflinge abschirmt gegen die Bauern, die auf den Feldern nebenan arbeiten. 

Noch für den Gartenarchitekten Sckell sind um 1800 nur Alleen 'imstande, Fürstengröße durch ihren majestätischen Charakter, der ihnen ganz eigen ist, auszudrücken.” Die massendemokratischen Anlagen von Investorenarchitektur von Hotels oder städtischer Fürsorge im sozialen Wohnbau treffen in Niederkirchers Aufnahmen auf historisch frühere Raumparadigmen und Landschaftsentwurfsstrategien, wie in der Allee und der Baumbeschneidung. Die Fotografien artikulieren die Ideologien, die Raum geworden sind. In den Logiken des Entwurfs wurden die herrschenden Systeme mitgeschrieben. Diese Ablagerungen dessen, was im Inneren die Entwürfe in der Stadt, in der Stadtarchitektur, in der Stadtlandschaft, mitbestimmt, ist durch Niederkirchers Recherche aufgenommen. Es artikuliert sich durch die Bannung der Konstellationen, die zufällig in der Stadtentwicklung entstanden sind, und ihre Zufälligkeit durch ihr künstlerisches Aufgespürtwordensein verlieren. Der Zufall wird zur Präzision des Moments der Wahrnehmung. In diesem präzisieren sich kulturelle Formationen und ideologische Antriebskonstellationen. Stadt ist in der jeweiligen Gegenwart immer auch Architektur-Geschichte, Landschafts-Geschichte. Diese geschichtete Zeit wird in den Fassaden und Bäumen, in den Zwischenräumen und Formationen von Michaela Niederkirchers Stadtlandschaftsuntersuchung deutlich. Die Tradition des Zuschnitts von Bäumen und Sträuchern führt ins Barockzeitalter, das nicht nur den Baumschnitt perfektionierte, sondern während der Herrschaftsepoche von Ludwig XIV in Frankreich auch die Schrittfolge des Ballett an der Académie Royale de Danse festlegte und in Tanzbüchern verschriftlichte. Damit war der grundlegende Schritt getan, dass aus der Konvention eines höfischen Zeremoniells eine Form des Wissens, ein lernbarer Tanz, der den Körper diszipliniert und formt, werden konnte. Das Wissen wurde auf Abruf gefügig. Aus dem Herrschaftszeremoniell wurde die Zirkulation von Wissen. Die Gefügigmachung und die Disziplin sind aus dem Wissen nicht verschwunden, die Zugänglichmachung für alle ist erfolgt. Auch das Zuschneiden der Bäume, dem höfischen Zeremoniell verpflichtet, wurde zu einer zirkulierenden Wissensform, die bis heute die Bäume erfassen kann. Das Subjekt als Souverän drückt sich in der Zurichtung der Natur und der Körper aus. Dieser Subjektwerdung, die sich zentralperspektivisch und in der Formation der barocken Gartenanalgen ausdrückt, geht Cornelia Klinger in dem Beitrag „Selbstbildnisse in entfernter Natur zur Konstituierung des modernen Subjekts im Spiegel der Landschaft” nach. Sie untersucht die Position und philosophische Formation des Subjekts, die als ausgedrückte aufzufinden ist in den materiellen Zeugnissen, in den gegenständlich gewordenen Gestaltungen, sei es die Malerei der Landschaft oder ihre Formation selbst. „Bereits die spätmittelalterlichen und mehr noch die barocken Weltenbilder ebenso wie die barocken Gartenanlagen bringen die Vorstellung eines sich als Subjekt auf sich selbst stellenden und alles andere als Objekt sich vorstellenden, das heißt sich gegenüber- und entgegenstellenden Subjekts ins Spiel.” Verändern sich die Gestaltungsparameter der Landschaft, so verändern sich auch die dazugehörig gedachten Subjekte in ihrer Formation. Die barocken Prinzipien der Gartengestaltung werden bereits im 18. Jahrhundert obsolet. Die barocken Strategien des Baumschnitts, die Zentralperspektive der Alleen ist in heutigen Stadtlandschaften aufzufinden. Die Asynchronizitäten des im Raum aufeinander treffenden unterstreicht die Spannungslagen heutiger Subjektkonstruktionen. „So statisch dieses Ordnungskonzept angelegt ist, so erweist es sich bald als fragil und flüchtig. Die Umwälzungen der Natur- und Gesellschaftsverhältnisse, die das 18. Jahrhundert erlebt, finden Ausdruck in einem signifikanten Wandel der Gartengestaltung, der in England bereits um 1720 einsetzt. (…) Der Horizont ist keine feste Größe, sondern eine bewegliche Einheit; er verändert sich beim Wandern. Das Subjekt des englischen Gartens ist nicht mehr der Souverän, sondern das Individuum, das beginnt, allein im Zentrum der Natur zu stehen und sich als Teil der Natur zu fühlen.”

Die Entsprechungen zwischen Räumen und Subjekten, Ideen, Ideologien, gesellschaftlichen Leitvorstellungen und gestalteten Manifestationen, die Rückschlüsse auf Brüche und Transformationen erlauben, werden retrospektiv analytisch hergestellt. Die Asynchronizität der Vielheit möglicher Entsprechungen durchzieht unsere Gegenwart. Die Resonanz ist erschüttert. Die Veränderungen der Hybridität der multi-identitären Subjekte finden ihre Spiegelung, ihre Entsprechungen in einer polyzentralen, zeitlich geschichteten Stadträumlichkeit, Stadtlandschaftlichkeit, die frühere Subjektvorstellungen qua Gestaltung weiter tradiert. Die Synthesen finden nicht mehr statt. Indem Michaela Niederkircher das im Raum der Stadt ungleichzeitig-gleichzeitig Aufeinandertreffende ins Bild bannt, setzt sie Momente frei, in denen die Gewordenheit von Subjektvorstellungen und ihre Gestaltungsentsprechungen in Architektur, Raumordnungen und Landschaftsgestaltungen auf 
die Lektüre durch die Gegenwart trifft und aufzeigt, wie wir heute dem Sinn zuschreiben, was als vergangene Subjektformationskraft den heutigen Subjekten nicht mehr entspricht, aber immer noch ihren urbanen Raum mitkonstituiert. Das, was das Nichtentsprechende, das Ungegenwärtige in der Gegenwart ist, zeigt auf, wie die historischen Formationen in ihrer Transponierung ins Heutige Zeitgleiches und Unzeitgleiches verbinden. Die barocken Techniken der Ordnung der Pflanzen und der Körper führen eine immer wieder neu zugeschnittene Existenz qua Gestaltung, die auf heutige Subjektformationen trifft. So können diesen Zuschnitten der Pflanzen neue Bedeutungen in den herrschenden Verhältnissen zugeschrieben werden: Ordnungsmacht, Kontrolle und deren Ausübung durch ästhetische Verfahren der bändigenden Zurichtung.

Text: Elke Krasny



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