Elke Krasny: Matulji - Die geschenkte Stunde

Auf einem Provinzbahnhof in Kroatien, plötzlich in ein Zeitloch geraten. In Erwartung von Freunden, die ankommen sollen. Der Zug verspätet sich. Eine unerwartete Stunde Zeit. Anfangs, vielleicht lästig, das Warten an diesem vergessenen, abgelegenen Ort. Dann eine Entdeckung: die Ruhe, die gnädige Leere der Bahnhofsräume.
Geborgen im Warten auf die Ankunft des Zuges, jenseits der langen Weile. In den wohligen Stillstand der Zeit sind sie gefallen, die schon lange nicht mehr veränderten Bahnhofsräumlichkeiten.
Michaela Niederkircher macht sich ans "Einfangen" einer geschenkten Stunde.
Wo ist ihre Kamera hier gelandet und welche streunenden und zugleich überaus präzisen Momentaufnahmen werden möglich? Ein Raum im Zeitstillstand. Der Bahnhof: ein Zwitterwesen, zwischen Ankunft und Abreise, zwischen Erwartung und Ärger, zwischen Langeweile und Interesse, zwischen Gelassenheit und Hektik … Für lange Zeit blieb der Bahnhof fremadrtiger Appendix an die Stadt, so Wolfgang Schivelbusch in seiner Geschichte der Eisenbahnreise. Wir haben uns nun lange schon an diese Zwitterwesen Bahnhof gewöhnt, sie sind uns nicht mehr fremd.
Michaela Niederkircher erspürt in den Räumen des Bahnhofs ein ruhiges, vertrauenswürdiges Jetzt. Sie geht dem gleitenden Ruhen in diesem Raum nach, der funktionalen Verlassenheit dieser Räume. So mutiert das Bild des Bahnhofs, das wir aus dem großstädtischen Zusammenhang als vielköpfige, vielarmige, vielbeinige Hydra, als zeitverschlingendes, zeitraffendes Monstrum kennen, zu einer zeitstiftenden Oase der Ruhe.
Auch im Stillstand des Raums, der sich in einen Stillstand der Zeit zu verwandeln scheint, vergeht die Zeit, unaufhaltsam. Diese ambivalente, zwitterhafte Stimmung, das unaufhaltsame Vergehen der Zeit, das scheinbare Stillstehen der Zeit, sucht Michaela Niederkircher in ihren Fotografien einzufangen, sie versucht der Zeit Raum zu geben.. Sehnsuchtsräume, Sehnsucht nach dieser Ruhe, nach dieser Gelassenheit, nach diesem in der Geschichte vergessenen, verlorenen Raum, der dennoch ungerührt bis in die Gegenwart sich erstreckt, die Ankommenden nicht abweist, sondern als flüchtige Passagiere, als Durchreisende gnädig aufnimmt.
Eine Stunde des Wartens, aufgenommen. Und schließlich: die Ankunft der erwarteten Freunde, sie sind die einzigen, die dem Zug entsteigen, die einzigen, die auch in der rätselhaft zeitlosen Zeit des Bahnhofs ankommen.
Die Räume sind uns nicht fremd, auf den Fotos; sie nehmen die ankommenden Blicke auf, sie strahlen ihre Ruhe, ihre Leere in die Gegenwart, wir tauchen in das Jetzt eines Raums, der einen beim Warten in Ruhe lässt.

2002, serie, 13 farb- und schwarzweißfotografien, 45 x 28 cm, ed.1/3

Text: Elke Krasny



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