Ingeborg Erhard: Geschichten über besondere Menschen

Michaela Niederkircher hat einen Blick für Besonderheiten im Alltag. Skurrile, oft verlassene – sie nennte es „stille“ – Orte haben es ihr angetan. Wenn Menschen in ihren Bildern auftauchen, dann sind es intime Momente, die sie einfängt. Scheinbar mühelos. Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene agieren völlig natürlich und unprätentiös vor ihrer Kamera. Mit wenigen Ausnahmen – wie zum Beispiel der „beautiful black lady“, die für die Künstlerin einfach eine auffallend schöne, in sich selbst ruhende Passantin war, die „festgehalten“ werden musste – ist deutlich, dass Michaela Niederkircher in einem Naheverhältnis zu den Porträtierten steht. Oft werden kleine Geschichten erzählt, liebevoll die Töchter „eingefangen“, Spaß gemacht und natürlich auch das Selbst in Relation dazu gesetzt. Das Selbstportrait im Spiegel, das eigentlich gar keine Selbstdarstellung ist, weil die Kamera über dem Kopf der Künstlerin von den Händen eines hinter ihr versteckten Kindes geführt wird, zeugt davon. Immer aber, auch wenn vordergründig Clownerien gezeigt werden wie beispielsweise bei „la tête culotte“, dem Porträt von Lara mit einem Kissen auf dem Kopf oder „red noses“, tragen die Fotos etwas Ernsthaftes, Wohlüberlegtes in sich.

In der Porträtfotografie steht das Individuum im Mittelpunkt, aber die Befragung des Verhältnisses zwischen Subjekt und Gesellschaft macht die Auseinandersetzung mit diesem Medium noch um einiges spannender. Es geht darum die Persönlichkeit des Porträtierten zum Ausdruck zu bringen, aber auch darum welche Haltung diese Person zum Betrachter, also zur Öffentlichkeit hin, einnimmt. Neben memorialen Aspekten, erzählerischen Momenten und der Selbstreflexion des/der FotografIn ist dieses Wechselspiel Dreh- und Angelpunkt gelungener Porträts. Peter Weiermair stellt in seinem Text zur Ausstellung „Das Porträt_Fotografie als Bühne“ in der Kunsthalle Wien fest: „Alle Porträtfotografie ist Resultat eines Dialogs. Dieser Dialog ist das zentrale Thema. Zuerst geht es um einen Dialog zwischen dem Fotografen und dem Modell, das sich verweigern kann oder gesehen werden will, und dem, der sieht, der also Voyeur der Wirklichkeit ist. Liegt die Fotografie als zweidimensionales statisches Bild vor, geht es um die Beziehung des Betrachters zum Bild und der durch ihn erfolgten Deutung.“ Die Portraitfotografie ist ein Spiegelbild der Gesellschaft, das in der Rezeption einer individuellen Interpretation unterliegt und dem im Entstehungsprozess ein Geflecht an persönlicher Emotion und Kommunikation vorausgeht, das – so es auch für die BetrachterInnen spürbar ist – zu berühren vermag. Die bekannte US-Künstlerin Nan Goldin formulierte ihre Herangehensweise anlässlich der Ausstellung „I´ll be your mirror“ im Fotomuseum Wintherthur so: „Bilder zu machen ist für mich eine Art, jemanden zu berühren – eine Form von Zärtlichkeit. Ich schaue mit einem warmen, nicht einem kalten Auge.“ Der deutsche Kunsthistoriker Hermann Deckert hielt bereits 1929 fest: „Kein Individuum kann durch schöpferische Darstellung objektiv wiedergegeben werden, aber die Darstellung kann derart sein, dass die erdeutete Individualität von jedem erfahren wird, so heftig und unmittelbar erfahren, dass die individuelle Person unmittelbar vergegenwärtigt ist. Jedes Werk, das dies erreicht ist ein Portrait.“

Gerade jetzt, wo Bildern von Personen inflationär im Raum stehen, nahezu jedes Mobiltelefon eine Kamera eingebaut hat und auf Facebook, MySpace, und ähnlichen Plattformen und Foren im Internet Einblicke in private Fotoalben jeglichen Sensationscharakter bereits verloren haben, macht es Sinn über Porträtfotografie verstärkt nachzudenken und auch die Differenz zwischen dem Handy-Schnappschuss und einer künstlerischen Auseinandersetzung zu thematisieren.
„’Jegliche Photographie ist die Beglaubigung von Präsenz.’ Der von Barthes formulierte Authentizitätsanspruch der Fotografie ist in Zeiten von manipulierten, digital bearbeiteten Bildern längst in seiner Gültigkeit unterlaufen. Die Suche nach Authentizität, Objektivität und der Dokumentation von Wirklichkeit wurde in der Fotografie vielfach abgelöst von der Frage der Konstruktion von Realität, von Fiktionalisierung und Wahrnehmungsmodellen, die von der Omnipräsenz medialer, häufig auch manipulierter Bilder gesteuert werden und die gesellschaftliche Identität prägen. Fotografie ist – und war es schon vor der Möglichkeit digitaler Bearbeitungen – immer auch Interpretation. Dennoch gibt es in der zeitgenössischen Fotografie erneut Bemühungen, gerade die Barthessche Unmittelbarkeit des menschlichen Abbilds und die damit verbundenen Bestrebungen nach der Darstellung vergangener Realität zu thematisieren.“ Authentizität und Unmittelbarkeit sind Eigenschaften, die alle Porträts von Michaela Niederkircher kennzeichnen.

Innenschau mit Aussicht

Die Porträtarbeiten von Michaela Niederkircher strahlen Intimität aus. Sie sind wohl auch intim, ohne jedoch in Bereiche vorzudringen, die die Porträtierten entblößen oder vorführen könnten. Auch als Betrachterin habe ich nicht den Eindruck in etwas hineingeraten zu sein, das nicht für meine Augen bestimmt ist. Es sind vornehmlich vertraute Personen, die die Künstlerin in ihrem Tun zeigt. Bewusst distanziert sie sich von jeglicher Inszenierung, bittet höchstens darum inne zu halten bis die Kamera geholt ist. Durch die enge Beziehung zwischen Fotografin und Fotografierten, kommt es vor, dass sich die Porträtierten aus Situationen heraus selbst in Szene setzen und mit der Künstlerin (oder ihrem Apparat) flirten und kokettieren. Ein Spiel. Zumeist sind sie aber einfach sie selbst. Es sind persönliche Geschichten, die zu Bildmotiven werden. Das nähere Umfeld bietet ein unerschöpfliches Reservoir. Zuhause und auf Reisen. Besonders die Situationen, die unterwegs aufgenommen werden – im Zug, in Hotelzimmern, in einem Restaurant mit Blick über eine Dachlandschaft oder in einem Gebetshaus – und Transitorisches festzuhalten versuchen, laden ein zur Narration. Sie sind offen für Assoziationen und lassen an Filmstills denken. Lichtführung, Spiegelungen, Unschärfen verstärken diese Wahrnehmung. Michaela Niederkircher erzählt mit Bildern. 

Die bereits 2003 entstandene Fotografie „hemd und bluse“ zeigt die Titel gebenden Kleidungsstücke – beides sehr klassische, reinweiße Modelle – übereinander in einem Fensterkreuz hängen, angestrahlt von warmem Gegenlicht. Es sind keine Menschen darauf abgebildet und dennoch findet sich diese Arbeit im Kapitel über das Thema „Porträt“ im Werk von Michaela Niederkircher. Sie ist in vielerlei Hinsicht typisch für ihre künstlerische Herangehensweise und stellt sowohl inhaltlich wie auch formal einen Dreh- und Angelpunkt in ihrem aktuellen und neueren Werk dar. Das Verhältnis von Innen und Außen, das Fenster als Portal, Spiegelungen und Überblendungen spielen auch in ihren raumbezogenen Arbeiten und Reisebildern eine wesentliche Rolle. Im Alltäglichen das Besondere zu sehen und auf unprätentiöse Weise aufzuzeigen gehört ebenfalls dazu. Sie markiert beziehungsweise kittet auf einer Metaebene eine Bruchstelle und löst die Trennung zwischen Mann und Frau auf. Eine Wunschvorstellung? Jedenfalls überlagern sich Bluse und Hemd auf selbstverständliche Weise. Vertrautheit, Einverständnis und vielleicht auch ein klein wenig Nostalgie schwingen in der Erzählung, die das Bild evoziert, mit. „hemd und bluse“ berichten uns viel über ihre TrägerInnen und stehen somit stellvertretend für diese Porträt.
Ein schöner, schwerer Vorhang mit Zierbordüre rahmt ein von einem luftigen Store verdecktes Fenster. Womöglich hat sich die Künstlerin für die raffinierten Drapierungen interessiert. Sie stellt jedoch dieser Fotografie im vorliegenden Buch eine weitere Fensterszene gegenüber. Hinter einem weißen, zart transparenten Vorhang zeichnet sich die Silhouette eines Mannes ab und so lädt Michaela Niederkircher diese Doppelseite mit sehnsüchtiger Emotion auf.
Die Arbeit „joy“ müsste eigentlich nicht so heißen, denn das Foto vermittelt Freude. Aber vielleicht heißt das Mädchen einfach nur so. „Einfach nur so“ gelingt es Michaela Niederkircher spezielle, aber gleichzeitig völlig alltägliche Situationen auf das Bild zu bannen und Stimmungen zu transportieren. „carla in the morning“ ist ein schönes Beispiel dafür, aber auch „Paris“, 2007. Ein Mann sitzt in einem Innenraum, der ein Café oder eine Brasserie sein könnte und vor allem durch seine geschwungenen Fensterstege in ansonsten recht einfachem Ambiente mit gewöhnlichen Geranienblumenstöcken als Dekor auffällt. Der Mann hat die Augen geschossen, macht ein Nickerchen oder hängt gerade einem Tagtraum nach. Die unspektakuläre Szenerie mit einem vom Stadtleben Erschöpften lebt durch den präzis gesetzten Ausschnitt und das Besondere im Detail. Die Fotokünstlerin Katy Grannan notiert zu diesem Phänomen: „Ich war schon immer daran interessiert wie eine Fotografie ihr Subjekt verändern kann – etwas Gewöhnliches gewinnt an Bedeutung und die Dinge oder Menschen, die übersehen oder ignoriert werden oder auf eine andere Art unsichtbar bleiben, sind es auf einmal Wert beachtet zu werden.“
Denselben Mann fotografierte Michaela Niederkircher in einer von braunem Herbstlaub bedeckten Ebene während er mit seinem Handy telefoniert. Immer wieder kommen dem/der RezipientIn Filmsequenzen in den Sinn. Haben wir ein Standbild daraus vor uns? Wurde eine Szene angehalten? 
Das wird natürlich bei jenen im Œuvre der Künstlerin eher seltenen Abbildungen, denen Dynamik innewohnt, wie beispielsweise bei „go for your right“, wo ein Mädchen mit Boxhandschuhen auf einen Punching-Bag eindrischt, noch deutlicher. Im Kopf des Betrachters/der Betrachterin entstehen Geschichten. In diesem Sinne ist Michaela Niederkircher eine Verführerin. Sie verführt dazu abzuschweifen, sich Situationen auszudenken und – hoffentlich – dazu dem Besonderen im Alltäglichen mehr Aufmerksamkeit und Augenmerk zu schenken.

Text: Ingeborg Erhard



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